Was haben der PS-Vita-Plattform-Puzzler „Murasaki Baby“ und die actiongeladene Dämonenhatz „Shadows of the Damned“ gemeinsam? Richtig, in beiden Fällen war Massimo Guarini als Game Director tätig. Mit „Last Day of June“ erschien nun am 31. August 2017 die nächste Videospiel-Vision des kreativen Italieners. Oder besser gesagt sein nächstes interaktives Kunstwerk, denn sowohl visuell als auch inhaltlich hebt sich der Indie-Titel wohltuend von der breiten Masse ab.
Was wir gut finden
Gute Geschichte, starke Atmosphäre
Es ist ein herrlich lauer Sommerabend. Carl und June, beide sichtlich verliebt, sitzen an einem Steg am Wasser. Sie kichern, lachen und genießen die gemeinsamen Momente, als wäre es ihr erstes Date. Doch plötzlich wird June kalt, worauf Carl sofort aufsteht, um ihr eine wärmende Decke aus dem unweit entfernten Auto zu holen. Vorher allerdings pflückt er ihr noch eine duftende Blume – was June natürlich sichtlich erfreut. Die sanften Strahlen der untergehenden Sonne tauchen den See in ein faszinierendes Abendrot und der Zuschauer spürt förmlich, dass die beiden Turteltauben vor allem eins sind: überglücklich.
Doch die traue Zweisamkeit währt nicht lange. Denn schon bald durchzucken Blitze den Himmel. Regentropfen prasseln hernieder und die Musik wird dramatischer. Carl und June packen ihre sieben Sachen, eilen zu ihrem schnuckeligen Fahrzeug und machen sich auf den Weg nach Hause. Auf dem Rücksitz zu sehen: Ein weiterhin nicht geöffnetes Präsent von June an Carl – dicht gefolgt von einer neuen Kameraeinstellung, die zeigt, wie beide unter einer steinernen Brücke hindurchfahren. Spätestens jetzt ahnt man: Die Rückreise steht unter keinem guten Stern…
Das Schicksal nimmt seinen Lauf
Eine Zwischensequenz später. Carl erwacht schweißgebadet in seinem Wohnzimmersessel und muss entsetzt feststellen, dass June verschwunden ist. Schlimmer noch: Der einst quicklebendige Brillenträger kann seine Beine nicht mehr spüren und sich lediglich mit Hilfe eines Rollstuhls fortbewegen. Es folgt ein typischer Explorations-Abschnitt, wie man ihn bereits aus der eingangs skizzierten Steg-Sequenz kennt. Von der beschwingten Leichtigkeit der Introsequenz ist allerdings wenig zu spüren. Im Gegenteil: Wo einst knallige, helle Farben dominierten, geben nun ein düsteres Blau und melancholische Klänge den Ton an.
Was hier vorgefallen sein könnte, erfahrt ihr jedoch erst als Carl in einer Art Atelier das Gemälde seiner geliebten Frau berührt und auf diese Weise eine Flashback-Sequenz mit einem gänzlichen neuen Protagonisten einleitet.
Die Rede ist von einem kleinen Jungen. Wild entschlossen jagt der Knirps (den ihr direkt steuern dürft) einen Hang hinunter – schnurstracks auf eine geteerte Landstraße zu. Dort nämlich liegt sein geliebter Fußball. Das Problem: Auch Carl und June tuckern zur gleichen Zeit eben diese Straße entlang – Katastrophe vorprogrammiert…
Die Situation irgendwie geradebiegen
Wie genau die Schlüsselsequenz des geschickt inszenierten Prologs endet, sei freilich nicht verraten. Fest steht nur: Als Carl aus seinem Flashback-Fiebertraum erwacht, scheinen sich seine schlimmsten Albträume zu bewahrheiten. Er sitzt noch immer im Rollstuhl und June ist noch immer verschwunden.
Einziger Hoffnungsschimmer: Aus bisher noch ungeklärter Ursache besitzt Carl jetzt die einzigartige Fähigkeit, die Zeit zurückzudrehen. Mittel zum Zweck sind in der Spielwelt verstreute Gemälde. Findet ihr beispielsweise das Bild des Jungen, könnt ihr seinen Teil der Geschichte in neue Bahnen lenken. Wurde eine Rückblende abgeschlossen, kehrt das Spiel in einer Art Hub-Level zurück, wo ihr wieder Carl spielt. Klingt ein bisschen nach dem 2004 veröffentlichten Hollywood-Film „Butterfly Effect“? In der Tat!
Um die nötige Komplexität zu wahren, spielt aber nicht nur das Schicksal des Jungen eine Rolle. In Kapitel zwei zum Beispiel schlüpft ihr in die Rolle einer Lehrerin (siehe Screenshot oben). Auch sie ist (wie zwei weitere Personen) auf tragische Weise mit der Gesamtsituation verknüpft. Beste Voraussetzung also für eine emotional aufwühlende Geschichte um Verlust und Trauer, aber auch um Hoffnung und Zuversicht. Wer noch alles mitspielt? Kleiner Tipp: Schaut euch mal das hier eingebundene Artwork an.
Wer chronologisch denkt, ist klar im Vorteil
Doch was heißt all das jetzt aus das Gameplay-Perspektive? Ganz einfach: Während ihr in der Rolle unterschiedlicher Personen regelmäßig neue Bereiche eines idyllischen Küstenörtchens entdeckt, müsst ihr immer wieder kleinere, charmant designte Rätsel lösen – die sich dann auf der Verlauf der Gesamtgeschichte auswirken.
Zwei Beispiele: Wechselt man in die Zeitlinie des kleinen Jungen und zerschmettert mit dessen Fußball eine riesige Blumenvase, um einen Durchgang freizulegen, bleibt dieser Durchgang auch in anderen, später stattfindenden Zeitlinien geöffnet. Stibitzt der Junge dagegen ein Seil, um einen Drachen steigen zu lassen, steht dieses anderen Personen im selben Zeitraum freilich nicht zur Verfügung.
Wichtig in diesem Zusammenhang: Seid ihr mit dem Ausgang einer Sequenz unzufrieden, könnt ihr sie ab einem gewissen Punkt verlassen und dann noch einmal von vorne probieren bis das gewünschte Resultat erzielt wurde. Das Spiel selbst überspringt im Folgenden einen Großteil der Abschnitte, die bereits richtig gelöst wurden. Rätselhilfen wie man sie aus klassischen Point’n’Click-Abenteuern kennt, gibt es davon abgesehen allerdings nicht. Wer weiterkommen will, muss seine grauen Zellen anknipsen.
Jede Szene ein Kunstwerk
Visuell zählt „Last Day of June“ schon jetzt zu den interessantesten Indie-Titeln des Jahres 2017. Hauptgrund hierfür ist die Tatsache, dass die Spielgrafik aussieht, als sei sie mit Wasserfarben gemalt. Das Gebotene ist komplett dreidimensional, wir können die Kamera also (fast immer) frei drehen und das Geschehen aus einem beliebigen Blickwinkel betrachten. Schön auch die Darstellung der Figuren. Der Stil (große Köpfe, dürre Gliedmaßen) erinnert ein bisschen an Tim Burton’s „Nightmare Before Christmas“, wirkt jedoch deutlich freundlicher. Dass die Charaktere keine Augen haben, ist laut Spieldirektor Guarini übrigens volle Absicht und soll es dem Zuschauer ermöglichen, sich besser in die Rolle der Protagonisten hineinzudenken.
Stichwort Tim Burton. Unterstützt wird das Entwicklerteam von Animationsprofi Jess Cope, der damals mit Tim Burton an „Frankenweenie“ arbeitete und bei Metallicas Musikvideo „Here Comes Revenge“ Regie führte. Die überaus einprägsame Musik wiederum stammt aus der Feder des angesagten englischen Musikers und Musik-Produzenten Steve Wilson, der mit „To The Bone“ am 18. August 2017 sein mittlerweile fünftes Studioalbum veröffentlichte.
Was wir schlecht finden
Schon mal „Und täglich grüßt das Murmeltier“ oder „Edge of Tomorrow“ gesehen? In „Last Day of June“ habt ihr ein ganz ähnliches Problem wie die Protagonisten in eben diesen Filmen. Denn um die Story erfolgreich voranzutreiben, müsst ihr bestimmte Szenen auf eine ganz bestimmte Art und Weise abschließen – und das kann zuweilen mit dem mehrfachen Neuspielen einer Sequenz verbunden sein, wodurch sich einige Passagen repetitiv anfühlen. Zugegeben, das ist Meckern auf hohem Niveau. Adventure-Profis könnten sich da schon eher an der Tatsache stören, dass einige Abschnitte etwas zu vorhersehbar wirken und der Schwierigkeitsgrad sie kaum vor größere Herausforderungen stellt.
Kleineren Punktabzug gibt’s außerdem für die zähen Ladezeiten zwischen einzelnen Spielabschnitten sowie die Tatsache, dass sich bereits erlebte Zwischensequenzen nicht überspringen lassen. Beides in Kombination bremst den Spielfluss leider streckenweise unnötig aus. Schade zudem, dass man manuell keine Spielstände anlegen darf und sich der Wiederspielwert in sehr engen Grenzen hält. Die meisten der 21 Trophäen sind bereits nach dem ersten Spieldurchlauf abgegrast und auch das Aufstöbern von insgesamt 20 versteckten Bildern motiviert nur bedingt.